Henny Hübner
Methodologisches Cross-over zwischen philosophischem Materialismus und Ästhetik
Welche gemeinsamen erkenntnistheoretischen Probleme könnten Quantentheoretiker, Künstler und philosophische Materialisten verbinden, wenn sie ihre Fragestellungen und Arbeitsprozesse beschreiben müssten?
Anders gesagt: Welche Folgen hat die Auseinandersetzung mit objektiven Widersprüchen der Wirk-lichkeit auf unser Verhalten zu ihr? Wir können sie relational beschreiben und uns dazu an qualitati-ven Konzepten des Gesamtzusammenhanges orientieren. In einigen quantentheoretischen Konzepten deutet sich dies schon an. Wir können sie aber auch kontradiktorisch behandeln und uns fragen, ob sie uns dazu auffordern, sich zurückzunehmen, was dann bedeutet, dass die Wirklichkeit gar nicht er-kennbar ist, dass man nur das Subjekt, sich selbst als Gewissheit hat. Ein Zeichner mag sich bei-spielsweise fragen, wie man sich als räumliche Bezugsgröße in die Zeichnung einbringen kann, doch das ist nicht möglich, da weder die eigene Position noch der Blick völlig arretierbar sind. Ebenso löst der Quantentheoretiker durch seine Existenz das von ihm beobachtete System auf. Metaphorisch ge-sagt: Die Perspektive als mathematisches Konzept ist wie so vieles andere unserer westlichen Zivilisa-tion ein cartesisches Unding, eine im Grunde irrationalistische Konstruktion. Hybris, wenn man so will.
Manche physikalischen Konzepte, wie die statistische Gesetzeskonzeption von Herbert Hörz, be-schreiben dann aber eine Dialektik zwischen Kontinuum und diskreter makroskopischer Wirklichkeit, der starken Kausalität, auf die wir uns in unserem Alltag beziehen. Allein für sich genommen würde Letztere zu einem strengen Determinismus zurückführen. Da hat man dann den Laplaceschen Dämon, die Hypostase, den Fetisch, das missratene Bild … den Ärger mit den physikalischen Phänomenen, die sich nicht mehr beschreiben lassen. Man wird zum Zauberlehrling einer Substanzontologie, die von der Möglichkeit der Zerlegung der Wirklichkeit in letzte unteilbare Teilchen ausgeht, jedoch hat man sich aller Möglichkeiten beraubt, zu erklären, wie die Bewegung in die Welt kommt. Bildprozesse pflegen zu scheitern an derartigen zenonschen Paradoxien.
Die Frage lässt sich aber auch so herum stellen, inwiefern das irreduzible Mehr der Wirklichkeit, wie es in den verschiedensten Formen ästhetischer Auseinandersetzungen erfahrbar wird, oder den Quan-tentheoretiker bei der mathematischen Formulierung vor Herausforderungen stellt, unsere Auffassung von Kausalität verändert. Die Rede ist nun nicht davon, selbst Krugs Schreibfeder deduzieren zu wol-len. Mit diesem Generalverdacht wendet sich amoklaufende Metaphysik nicht nur gegen Hegels Tota-litätskonzept, sondern gegen jeden Holismus. So gilt es, am gegenwärtigen Wiederaufleben der spät-idealistischen Reinheitswut des Deutschen Selbstbewusstseins eine Ideologiekritik zu entwickeln und dabei gleichzeitig die gemeinsamen idealistischen Wurzeln des naturwissenschaftlichen und philoso-phischen Positivismusstreits aufzusuchen. Die Diskussion um die verschiedenen Formen des Wider-spruchs bzw. des Zufalls und damit verbunden um den Materiebegriff sollte neu entfacht werden.
Die Lösung, den Ausweg bieten m. E. qualitative Konzepte, die sich auf die Unerschöpflichkeit der Materie als universelle Wechselwirkung beziehen. – So die statistische Gesetzeskonzeption von Her-bert Hörz, aber z. B. auch anikonische Formen der Kunst. Sie lassen sich als Denkmodell heranzie-hen, weil sie endgültig mit einer rein subjektiven Organisation des Sehprozesses brechen und Begriffe wie die Perspektive gar nicht kennen bzw. als Übermittlung von Wirklichkeit nicht akzeptieren wür-den. Jene ästhetischen Traditionen können als qualitative Formen der Wirklichkeitsbeschreibung in-sofern eine Rolle spielen, weil sie bei aller Nähe zum Immanentismus dennoch Ausdruck einer Hal-tung bleiben, die sich der Unabhängigkeit der Materie vom Bewusstsein gewahr zu bleiben versucht.
Wer im Gegenzug nicht die sowohl selbstständige als auch unselbstständige Situation des Menschen gegenüber der Natur anerkennt, nimmt keine menschliche, sondern wiederum eine subjektzentrierte, anthropomorphistische und idealistische Position gegenüber der Wirklichkeit ein. Täuschung bleibt m. E. die unmittelbare Subjekt-Objekt Einheit, auf der viele Kunstsprachen in Anlehnung an den Im-manentismus von Adorno ihre Autonomie und ihr Selbstverständnis begründen – sowie in Analogie dazu die Täuschung oder vielmehr ständige erkenntnistheoretische Konfusion um Bewusstsein und Sein, auf der Diskussionen um die Dialektik, um ihre Methodologie ihren dritten Weg begründen. – Und zwar einst wie heute.
In diesem scholastischen Streit gälte es Lenins Erkenntnistheorie, seine Vergröberungsthese zur Kenntnis nehmen. Sie ist für den, der von Lenin nichts wissen will, durch Heisenbergs Postulat der Unschärfe der Begriffe substituierbar, ferner durch das konsequente Entgegentreten des wissenschaft-lichen Realismus gegenüber den modernen Formen der Deutschen Ideologie, als den verschiedenen Formen des Strukturalismus.
Unerlässlich bleibt die Vergröberungsthese auch für den Umgang mit dem irreduziblen Mehr im ästhetischen Arbeitsprozess, wie er seinerseits die Begriffe unscharf werden lässt und ihre Geschicht-lichkeit demonstriert. Damit stellt sich die alte Frage nach der Dialektik von Wesen und Erscheinung neu, als Frage nach einer universellen Theorie unter dem Vorzeichen der Unselbstständigkeit wie Selbstständigkeit des Menschen gegenüber der Natur. Sie tritt damit verbunden auf als neue Suche wie alte Bestimmung des Zusammenhangs von Theorie und Praxis inmitten des gegenwärtigen Posi-tivismusstreits … aber ohne den Suggestionen subjektiv-idealistischer Täuschungsmanöver und ihren vielfältigen Postulaten eines dritten Weges, ihrem Umschlagen von Voluntarismus in Fatalismus fol-gen zu wollen.